Objekt 50c Hoodie

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Unter der internen Katalogsbezeichnung Objekt 50c Hoodie wird der ausgestellte Kapuzenpullover im Rahmen der Ausstellung „Wunderkammer modern. 50 Jahre – 50 Objekte“ im Stadtmuseum Kassel (2021/22) geführt. Es ist Teil der Objekt 50 Installation. Die Präsentation wurde von Felix Böhm, Martin Böhnert, Anna Meywirth und Paul Reszke in Zusammenarbeit mit dem Team um Ausstellungskuratorin Martina Sitt entwickelt.

Ausstellungsobjekt

Objekt 50c Hoodie (Foto Nicole Kasper).

„Objekt 50c Hoodie” umfasst einen orangefarbenen Kapuzenpullover aus 80 % Baumwolle und 20 % Polyester mit dem Aufdruck „ARCHITECTS brighton post metalcore est-04“. Dieser wird auf einem Torso, der auf einem Sockel steht, präsentiert. Rechts neben dem Sockel befinden sich drei Texttafeln, welche das Objekt jeweils unter einer anderen Überschrift perspektivieren – „Hoodie der Zerstörung“, „Schreien gegen den Klimawandel“ und „Anatomie eines Hoodies“.

Hintergrund

Wie auch bei den Objekten 50a Eisbär und 50b Topfpflanze geht es darum, das Objekt durch unterschiedliche Perspektivierungen in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Verstrickungen zu beleuchten. Während der erste Blick auf den Hoodie ohne das Lesen der Begleittexte den intuitiven Zugang mit individuellen Assoziationen und Vorerfahrungen erlaubt, sollen die Texttafeln das Objekt aus jeweils einer anderen Perspektive beleuchten: „Hoodie der Zerstörung“ (Über Klimawandel sprechen), „Schreien gegen den Klimawandel“ (Vom Klimawandel erzählen) und „Anatomie eines Hoodies“ (Über Klimawandel nachdenken).
Dass Kleidungsstücke als multimodale Kommunikate und komplexe Zeichen fungieren, haben zahlreiche semiotische Analysen gezeigt.[1][2] Indem der Hoodie von seiner Rolle als Kleidungsstück und damit seiner eigentlichen Funktion entbunden wurde, um als Ausstellungsstück genutzt zu werden, wird dies an ihm in besonderer Weise ersichtlich. Als erstes fällt in der Ausstellung das leuchtende Orange als Warnfarbe ins Auge. Ganz untypisch für das ansonsten szenetypische schwarze Merchandising einer Hardcore-Band strahlt es schon von weitem mit hoher Signalwirkung: Wer ihn anziehen würde, versteckt sich ganz sicher nicht. Da ist zum Zweiten die schwarze Schrift auf Brust und Ärmeln, die offenkundig dem am nächsten kommt, was üblicherweise als zeichenhaft verstanden wird. Sie verweist auf die Band Architects und eine ihrer Touren, in deren Rahmen der Hoodie verkauft worden ist. Als Drittes ist auch die Schnittform des Kleidungsstücks ein Zeichen, stellt der Kapuzenpullover doch vor allem eine Verbindung zu verschiedenen Subkulturen dar. Auch wenn dieser Schnitt längst in den großen Modeketten zu finden ist, verleiht er Träger*innen deshalb doch noch immer einen subversiven und gegenkulturellen Anschein. Wer ihn trägt, positioniert sich dadurch und macht sich nicht gemein mit z. B. „Anzugträgern“. Als Viertes und in der Regel verborgen, finden sich auf der Innenseite des Hoodies wie in wohl jedem industriell hergestellten Kleidungsstücke Hinweise auf das produzierende Unternehmen, das Herkunftsland, das Material und die Möglichkeiten der Reinigung. Einmal entdeckt, wird somit ein Stück Vergangenheit und Zukunft, die Zeitlichkeit und Veränderlichkeit des Hoodies offengelegt. Es handelt sich um ein gemachtes Stück, an dem Menschen Hand anlegten und anlegen werden. Unter welchen Bedingungen dies geschah und geschehen wird, das bleibt allerdings verborgen. In welcher Verbindung er darüber hinaus mit Fragen des Klimawandels steht, das bedarf einem weiteren Schritt der Analyse, in der medienkulturelles und politisches Wissen einen zentralen Raum einnimmt. Denn dabei ist nicht nur wichtig, was der Hoodie verbirgt und was er zeigt, sondern auch, von wem dieser in welchem Kontext getragen wird und wurde. Hierauf geben die Exponatsbeschriftungen Hinweise.

Exponatsbeschriftung

Hoodie der Zerstörung (sprechen)

Wie wichtig ist in der Umwelt- und Klimapolitik eigentlich der Dresscode? Über die Grünen wurde gelacht, als sie in den 1980ern mit selbstgestrickten Wollpullovern in den Bundestag einzogen. Greta Thunbergs gelber Regenmantel prägte die mitteleuropäische Herbstmode auch abseits von Fridays for Future.[3] Der Influencer Rezo entschied sich wiederum für einen orangefarbenen Hoodie, als er 2019 im Youtube-Video „Die Zerstörung der CDU.“ dazu aufforderte, bei der Europawahl nicht die CDU, CSU, SPD und AfD zu unterstützen. Mit heute über 18 Millionen Aufrufen produzierte er damit den meistbeachteten Kommentar zur deutschen Klimapolitik. Die Berufspolitiker*innen schäumten vor Wut, diskutierten über neue Regeln für das Internet, fanden aber keine kongeniale Antwort. Was wäre gewesen, hätte Rezo stattdessen im Anzug eine Rede gehalten? Wer hätte ihm dann zugehört? Niemand? Vielleicht.
Text: Felix Böhm

Schreien gegen den Klimawandel (erzählen)

Vom Klimawandel erzählen können nicht nur Literatur und Film, sondern auch andere ‚Medien‘ wie dieser Hoodie: Die Aufschrift verweist auf die britische Band Architects. In ihrer Musik verbindet die Band Hardcore-Punk und dessen oft politische Texte mit den wütenden Gitarrenriffs von Metal. So auch auf dem Album „All Our Gods Have Abandoned Us“ (2016), das die Klimakatastrophe als Ende der Welt, wie wir sie kennen, zeichnet. Die Platte, kommentierte Der Standard, „ist in erster Linie ein lautes und brachiales Statement gegen die traurige Zerstörung der Umwelt, sie ist auch ein Plädoyer dafür, den Klimawandel gefälligst ernst zu nehmen.“[4] Ist vielleicht die herausgeschriene Wut hinter der Frustration in Zeilen wie „Maybe we've passed the point of no return/Maybe we just wanna watch the world burn“ („Deathwish“[5]) die einzig angemessene Art vom Klimawandel zu erzählen?
Text: Jan Sinning

Anatomie eines Hoodies (nachdenken)

Das Objekt in der Vitrine ist mehr als ein orangefarbenes Textilprodukt aus 80% Baumwolle und 20% Polyester: Ein tragbares Zeichen der Verbundenheit mit einer klimaaktivistischen Band; ein Verweis auf eine mediale Debatte über den Klimawandel im Vorfeld der Europawahl 2019; als Karnevalsverkleidung[6] des Vorsitzenden der Jungen Union im Jahr 2020 ein polemischer Kommentar zu jener Debatte. Wir können Sachen eine neue Wirklichkeit verleihen, ohne die Sachen selbst zu verändern. Man sagt, dass wir dabei aus rohen Tatsachen soziale machen.[7] Es ist ein selbstverständlicher Teil unserer Lebenswelt, wenn wir buntbedrucktes Papier kollektiv als Geld anerkennen, um individuell Benzin damit zu bezahlen, oder wenn aus artikulierten Schallwellen im politischen Diskurs ein Klimaabkommen wird. Können wir der rohen Tatsache ‚globale Erwärmung‘ entgehen, ohne sie mithilfe von sozialen Tatsachen zu bändigen?
Text: Martin Böhnert

Weiterführendes

Ausstellung „Wunderkammer modern. 50 Jahre – 50 Objekte“

Bewerbung der Ausstellung an der Außenwand des Stadtmuseums Kassel.

Anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zum 50. Jubiläum der Universität Kassel, findet vom 14. Oktober 2021 bis zum 18. April 2022 die Sonderausstellung Wunderkammer modern. 50 Jahre – 50 Objekte im Stadtmuseum Kassel statt. Im Rahmen dieser Ausstellung wird anhand von 50 Ausstellungsobjekten „ein halbes Jahrhundert Geschichte“[8] der Universität Kassel erzählt.

Belege

  1. Vgl. Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Lit.
  2. Vgl. Staubach, Katharina (2020): Multimodale Sehflächen auf den T-Shirts von Jugendlichen. Eine semiotische Studie zu Prozessen jugendlicher Selbstinszenierung. Tübingen: Stauffenburg.
  3. Rose, Andreas (o.A.): Wetterfester Chic. Online, zuletzt abgerufen am 01.10.2021.
  4. Dorfi, Gerhard (2017): Architects: Die Wut und das moderne Leben. In: Der Standard. Online, zuletzt abgerufen am 26.08.2021.
  5. Architects (2016): Deathwish. In: Genius. Online, zuletzt abgerufen am 01.10.2021.
  6. RND (2020): „Tilman Kuban aka Rezo“ – JU-Chef verkleidet sich als Youtuber. In: RND. Redaktionsnetzwerk Deutschland. Online, zuletzt abgerufen am 01.10.2021.
  7. Vgl. hierzu Searle, John (2010): Making the social world. The structure of human civilization. Oxford: Oxford University Press.
  8. Sitt, Martina (2020): Sonderausstellung "Wunderkammer modern. 50 Jahre – 50 Objekte". Universität Kassel im Stadtmuseum. In: Universität Kassel. Online, zuletzt abgerufen am 09.08.2021.



Autor*innen

Erstfassung: Felix Böhm, Martin Böhnert, Anna Meywirth und Paul Reszke am 14.10.2021. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der Diskussionsseite einsehbar.

Zitiervorlage:
Böhm, Felix et al. (2021): Objekt 50c Hoodie. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Objekt 50c Hoodie, zuletzt abgerufen am 29.03.2024.