Gaia-Hypothese

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Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Grundzügen der Gaia-Hypothese, einem aus den Biowissenschaften stammenden Beschreibungskonzept der Erde als selbsterhaltende Entität.

Was ist die Gaia-Hypothese?

Im Kern der Gaia-Hypothese steht die Annahme der Existenz einer komplexen, sich selbsterhaltenden Entität, welche im Zusammenspiel der Biosphäre, Atmosphäre, Ozeane und Böden besteht, und Gaia genannt wird.[1] Gaia wird häufig als ein lebendiger Superorganismus (d.h. viele voneinander abhängige Einzelorganismen, die eine selbstregulierende Einheit bilden[2]) oder als ein kybernetisches System konzeptualisiert, welches die Eigenschaft besitzt, sich bei verändernden Bedingungen optimal auf einen bestimmten Zielzustand zuzubewegen.[3]

James Lovelock (2002).

Als Begründer der Gaia-Hypothese gilt der Wissenschaftler, Autor, Erfinder und Umweltschützer James Lovelock. Er entwickelte gemeinsam mit der Biologin Lynn Margulis die Gaia-Hypothese in den 1970er Jahren in Anlehnung an die Beobachtung, dass das Klima der Erde seit dem Entstehen irdischen Lebens (vor ca. 3500 Mio. Jahren) relativ stabil gewesen ist, obwohl sich im gleichen Zeitraum abiologische Faktoren wie die Sonneneinstrahlung, die Oberflächenmerkmale der Erde sowie die Zusammensetzung der Atmosphäre höchstwahrscheinlich stark gewandelt haben. Dieses scheinbare Paradoxon ließ darauf schließen, dass neben abiologischen Faktoren auch biologische Faktoren (d. h. das Leben selbst) das Klima in der Art regulierten, dass weiterhin die Voraussetzungen für Leben auf der Erde gegeben waren.[4]

Lynn Margulis (1984).

Der Name Gaia wird entlehnt aus der griechischen Mythologie, in der Gaia die personifizierte Erde beziehungsweise die Göttin der Erde beschreibt. Lovelock warnt jedoch davor, Gaia aufgrund des Namens fälschlicherweise als ein fühlendes, oder gar bewusstes Wesen zu konzeptualisieren[5] Der Name solle stattdessen ausdrücken, dass das beschriebene komplexe Zusammenspiel aus Bio- und Ökosphäre eine zusammengesetzte, emergente Identität („composite identity“) bildet, welche mehr als nur die Summe ihrer Teile darstellt.[6] Zudem vergleicht Lovelock das Verhältnis zwischen Gaia und der Biosphäre mit dem Verhältnis zwischen einer Person und ihrem Körper – Gaia sei ein „Superorganismus“[7], der nicht allein durch seine physischen Bestandteile gefasst werden könne.

Wie reguliert sich Gaia?

Der Forschungsbereich der Kybernetik beschäftigt sich mit selbstregulierenden Kommunikations- und Kontrollsystemen in Lebewesen oder Maschinen.[8] Neben dem Menschen kann auch Gaia als ein solches adaptives System betrachtet werden, welches in der Lage ist, Informationen zu sammeln und zu speichern.[9] Gaias Regulationsprozesse werden oft formal als kybernetische Prozesse dargestellt. Dabei existiert ein Zielzustand (z.B. Erdtemperatur), auf welchen Gaia sich kontinuierlich mittels Feedbacks zubewegt bzw. den sie erhält. Dieses Erhalten eines Zielzustands wird gemeinhin als Homöostase bezeichnet.[10] In neueren Arbeiten wird teils von Homöorhese gesprochen, um herauszustellen, dass es sich bei diesem Zielzustand weniger um einen Fixpunkt, sondern vielmehr um ein sich langsam veränderndes Gleichgewicht handelt.[11] So wird dem Einwand Rechnung getragen, dass das Erdsystem sich durchaus ständig verändert, indem beispielsweise Arten verschwinden und neu entstehen. Global gesehen benötigen die Regulationsprozesse, die für das Aufrechterhalten der Homöorhese notwendig sind, sehr viel Zeit.[12]

Die Atmosphäre

Ein gängiges Beispiel, an dem Gaias Regulationsmechanismen sichtbar werden, ist die Zusammensetzung der Atmosphäre. Diese wandelte sich zwar im Laufe der Erdgeschichte, ermöglichte allerdings seit ca. 3500 Millionen Jahren Leben auf der Erde.[13] Darüber hinaus befindet sich die Atmosphärenzusammensetzung nicht in einem chemischen Gleichgewicht, sondern die höchst ungewöhnliche Kombination hochreaktiver Gase kann nur dadurch erklärt werden, dass ständige Regulationsprozesse sie erhalten.[14]

Heutzutage besteht die Luft der Atmosphäre vor allem aus Stickstoff und Sauerstoff, sowie aus kleinen Anteilen anderer Gase. Erst die Anwesenheit von Sauerstoff in der Luft machte die Existenz von „höheren“ Lebensformen, inklusive des Menschen, möglich; gäbe es hingegen zu viel Sauerstoff in der Luft, würde es zu ständigen Bränden kommen.[15] Daraus ergibt sich ein Korridor, in dem sich der Sauerstoffgehalt der Luft optimalerweise bewegen muss, um das Erdsystem und das Leben auf der Erde in seiner jetzigen Form zu erhalten. Ähnliche Korridore existieren für die anderen Gase in der Atmosphäre, welche unterschiedlichste Funktionen erfüllen.

Es erscheint möglicherweise offenkundig, dass Lebewesen einen Einfluss auf den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre haben: Tiere (und Pflanzen) atmen Sauerstoff ein, Pflanzen sind darüber hinaus in der Lage, mithilfe von Fotosynthese Sauerstoff zu produzieren. Damit kennen die meisten Menschen bereits einen wichtigen Regulationsprozess Gaias. Doch Gaia hält weitere Regulationsmechanismen bereit. So wurde beispielsweise gezeigt, dass die Gase Methan und Lachgas ebenfalls eine Rolle bei der Regulation von Sauerstoff spielen.[16] Die Produktion von Methan und Lachgas wiederum geschieht durch Bakterien und Mikroorganismen in Schlamm und Sedimenten im Meeresboden, in Sümpfen und Feuchtgebieten.[17] Diese Teile Gaias scheinen von besonderer Bedeutung für Gaias Regulationsfähigkeit sein.

Die Ozeane

Darstellung von Kieselalgen aus Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1904).

Ein weiteres Beispiel für Gaias Regulationsmechanismen ist die Konstanthaltung des Salzgehalts der Ozeane. Auch hier eröffnet sich das scheinbare Paradoxon, dass sich trotz schwankender abiologischer Faktoren (z.B. Meeresspiegelveränderungen, Schmelzen und Gefrieren von Eis) der Salzgehalt der Meere konstant in gerade jenem Bereich befunden hat, welcher das Überleben von Meereslebewesen ermöglichte.[18] Dies ist besonders überraschend, wenn berücksichtigt wird, dass Flüsse und Regen kontinuierlich kleine Mengen von Salz ins Meer spülen, was eigentlich eine Zunahme des Salzgehalts zur Folge haben müsste.[19] Was passiert also mit dem überschüssigen und mitunter lebensbedrohlichen Salz?

Eine zentrale Rolle bei der Regulation des Salzgehalts spielen Kieselalgen.[20] Diese Algen besitzen ein Skelett aus Kieseln, welches sie aus dem Salz der Meere herstellen. Das Salz wird in den Skeletten gebunden und sinkt nach dem Tod der Alge auf den Meeresboden, wo sich infolgedessen Sedimente bilden.[21] Nicht nur das Binden des Salzes selbst, sondern auch die Anlagerung am Meeresboden spielen möglicherweise eine Rolle bei der Salzregulation. So begünstigt der Druck auf den Meeresboden vulkanische Aktivitäten und die Bildung von Lagunen, in denen zusätzlich große Mengen Salz angespült werden.[22] Lovelock schlussfolgert, dass die Ozeane als Ganzes, und insbesondere die Kontinentalschelfe, d.h. jene flachen Bereiche in der Nähe der Küsten, von großer Bedeutung für die Regulationsfähigkeit Gaias sind.

Was bleibt von der Gaia-Hypothese?

Bereits im 18. Jahrhundert gab es erste Ideen dazu, dass es sich bei der Erde um eine Art lebendigen Superorganismus handeln könnte; diese wurden jedoch seit der Aufklärung als unwissenschaftlich oder romantisierend abgetan.[23] Auch die Gaia-Hypothese wurde nach ihrer Entwicklung in den 1970er Jahren von esoterischen und religiösen Gruppen vereinnahmt.[24] Kritik an der Idee eines Gaia’schen Superorganismus ist nicht vollends unbegründet, da bis heute ungeklärt ist, welche Selektionskraft zur Entstehung eines solchen Superorganismus führen solle.[25]

Naturwissenschaftler*innen warfen Lovelock zudem vor, dass die von ihm beschriebene Selbstregulation absichtsvoll oder zielgerichtet sein müsse. Diese teleologische Annahme sei wiederum unwissenschaftlich.[26] Lovelock und seine Unterstützer*innen wehrten sich gegen diesen Vorwurf und betonten stets, dass keinesfalls angenommen werden solle, dass die Selbstregulationsmechanismen bewusst oder zielgerichtet seien.[27] Ein Grund für den Vorwurf könnte die von Lovelock genutzte Kybernetik-Analogie sein, die von „Zielzuständen“ spricht. Es bleibt dabei unklar, wie und durch wen dieser definiert wird. Eine sehr unkonkrete Antwort würde lauten: Das Ziel besteht darin, gewisse Parameter in jenem Korridor zu bewahren, der Leben auf der Erde ermöglicht, und alle organischen und nichtorganischen Teile der Erde sind daran beteiligt.

Trotz aller Kritik haben die modernen Naturwissenschaften heute große Teile der Gaia-Hypothese akzeptiert, grenzen sich jedoch oftmals vom Namen „Gaia“ ab und sprechen stattdessen von Umweltsystemwissenschaften oder Geophysiologie[28]. Trotzdem könnte der Einfluss der Gaia-Hypothese auf das Weltbild und die Methodik der Klimaforschung kaum größer sein. Nachdem lange Zeit das oberste Ziel der Naturwissenschaften war, alles in möglichst kleine Einzelteile zu zerlegen, um diese zu verstehen, ist das Ziel heutiger Klimaforschung, das große Ganze, das Gesamtsystem Erde, zu verstehen.[29]

Ein weitreichendes Beispiel für derartige Forschung ist die Arbeit des Intergovernmental Panel on Climate Change (“Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen“, IPCC). Der IPCC wurde 1988 von den Vereinigten Nationen (UN) ins Leben gerufen, um den aktuellen Stand des Klimawandels sowie die Wirksamkeit möglicher Klimaschutzmaßnahmen zu beforschen. Zum Kern der Methodik des IPCC gehört es, hochgradig komplexe Computermodelle zu kreieren, welche das Erdsystem abbilden sollen.[30] Anhand dieser Modelle wird berechnet, wie sich bestimmte Einflussfaktoren auf den Klimawandel auswirken und inwiefern Maßnahmen zum Klimaschutz den Klimawandel verringern können.[31] Das simultane Berücksichtigen einer Vielzahl an Faktoren und derer Interaktionen scheint genau im Einklang zu sein mit den Zielen der Gaia-Hypothese.

Belege

  1. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press.
  2. Spektrum Akademischer Verlag (1999): Superganismus. In: Lexikon der Biologie. Online, zuletzt abgerufen am 17.10.2023.
  3. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 10.
  4. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 9.
  5. . Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVI.
  6. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVI.
  7. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XVIIf..
  8. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 44.
  9. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 57.
  10. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 10.
  11. Franck, Siegfried (2002): Die Gaia-Hypothese im Lichte der Erdsystemforschung. In: GAIA - Ecological Perspektiven for Science and Society 11(1), S. 21-24. Online, zuletzt abgerufen am 19.11.2024.
  12. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 119.
  13. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 9.
  14. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  15. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 65.
  16. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 68, 71.
  17. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 67.
  18. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 79, 85.
  19. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 80.
  20. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 88.
  21. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 88.
  22. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. 92.
  23. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  24. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  25. Spektrum Akademischer Verlag (1999): Superganismus. In: Lexikon der Biologie. Online, zuletzt abgerufen am 17.10.2023.
  26. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  27. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  28. Lovelock, James (2016): Gaia - A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press, S. XIX.
  29. Podbregar, Nadja (2013): Organismus Erde? Von der Gaia-Hypothese zum System Erde. In: Nadja Podbregar & Dieter Lohmann (Hrsg.): Im Fokus: Geowissen, Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum, S. 153-160.
  30. IPCC (2022): Climate Change 2022: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate. Summary for Policymakers. Cambridge: Cambridge University Press.
  31. IPCC (2022): Climate Change 2022: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate. Summary for Policymakers. Cambridge: Cambridge University Press.

Autor*innen

Erstfassung: Amira Mehr am 03.06.2025. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der Diskussionsseite einsehbar.

Zitiervorlage:
Mehr, Amira (2025): Gaia-Hypothese. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Gaia-Hypothese, zuletzt abgerufen am 06.06.2025.