Benutzer: Martin Böhnert/Werkstatt
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Wissen über den Klimawandel
Dieser Artikel dient als Übersicht einer Reihe, in der unser Wissen über den Klimawandel aus verschiedenen Perspektiven reflektiert wird.
Im Alltagsverständnis wird Wissen häufig als stabil und abgeschlossen begriffen, als etwas, was man sich aneignen und entsprechend abrufen kann und bei dem man entweder richtig oder falsch liegt. Vor diesem Hintergrund könnte ein Artikel zum Wissen über den Klimawandel den Versuch darstellen, eine Liste aller Tatsachen über den Klimawandel anzulegen. Anstatt das Wagnis eines solchen Wissensberichts einzugehen, geht es jedoch vielmehr darum, Facetten unseres Wissensbegriffs aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Gerade weil unser Wissen über den Klimawandel im besten Fall handlungsorientierende Grundlage politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer oder ölkologischer Entscheidungen sein soll, mag das Berufen auf Fakten „zwar intuitiv überzeugen. Umso mühevoller ist es, sich bewusst zu machen, dass Fakten nur unter je eigenen Voraussetzungen als solche auftreten.“[1] Die Reflexion unseres Wissenskonzepts eröffnet so den Blick auf in Konkurrenz stehende Wissensformen und Debatten um die Rechtfertigung und Begründung von Wissensansprüchen. Vor diesem Hintergrund wird aus dem vermeintlich stabilen und abgeschlossenen Wissensbegriff des Alltags ein komplexes Phänomen, zu dem selbst die Frage, ob Komplexität und Kompliziertheit anstelle von Exaktheit und Eindeutigkeit als Verlust oder Gewinn erfahren wird, zählen kann: Etwa in der Form, wie es die Philosophin Helen Longino mit Bezug auf den Klimawandel-Diskurs in dem Eingangszitat betont.[2] |
Standarddefinition des Wissens
Seit der Antike gibt es die Bestrebung, eine klare Differenzierung zwischen Wissen und Meinung herauszustellen.[3] Hieraus hat sich eine Art „Standarddefinition von Wissen“ entwickelt, bei der Wissen an drei Bedingungen geknüpft ist:
Ein Subjekt S weiß, dass p, genau dann, wenn
- p wahr ist
- S der Überzeugung ist, dass p
- S gute Gründe für die Überzeugung, dass p[4]
Dieser Definition zufolge ist Wissen eine wahre, begründete Überzeugung. Selbst wenn diese Begriffsbestimmung nicht vollumfänglich ist und immer wieder in der Kritik steht, [5] taugt sie auch deshalb als Ausgangspunkt, weil sie eine intuitive Überzeugungskraft hat: Wenn jemand der Überzeugung ist, dass es regnet, dies aber nicht der Fall ist, würden man nicht davon sprechen, dass er oder sie weiß, dass es regnet (Wahrheitsbedingung). Wenn jemand zwar sagt, es würde regnen, aber gar nicht davon überzeugt ist, dass es regnet, würde man ebenfalls nicht davon sprechen, dass er oder sie weiß, dass es regnet (Überzeugungsbedingung). Und wenn jemand sagt, es würde regnen, hierfür aber keinerlei Gründe anführen kann, würde man ebenfalls nicht davon sprechen, dass er oder sie weiß, dass es regnet (Rechtfertigungsbedingung). Wird mindestens eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, spricht man nicht von Wissen, sondern eine Aussage fällt dann in den Bereich der als defizitär verstandenen Meinung.
Erkenntnistheoretische Reflexion von Wissen
Als Ausgangspunkt einer ersten erkenntnistheoretischen Reflexion lassen sich alle drei Bedingungen der Standarddefinition problematisieren, ungeachtet dessen, ob die Definition selbst taugt oder nicht. So lässt sich mit Blick auf die erste Bedingung fragen, was mit „wahr“ gemeint sein könnte, welches Konzept von Wahrheit jeweils zugrundgelegt wird – beispielsweise eine Korrespondenz-, Kohärenz- oder Konsenstheorie der Wahrheit – oder welche Kriterien zur Überprüfung der Wahrheit herangezogen werden können. Mit Blick auf die zweite Bedingung lässt sich überlegen, was eine Überzeugung zu einer Überzeugung macht oder welcher Grad des Vertrauens in die Richtigkeit einer Aussage vorliegen muss, um davon überzeugt zu sein. Schließlich erlaubt die Bezugnahme auf die dritte Bedingung, welche Formen der Rechtfertigung einer Überzeugung anerkannt werden sollen oder dürfen, bspw. durch individuelle Erkenntnisressourcen wie Wahrnehmen, Erinnern und Schlussfolgern, durch empirische Messergebnisse, mathematische Beweise, Verweise auf Traditionen oder Dogmen, Rückbezüge auf Präzedenzfälle etc.
Um genau diese Fragen drehen sich – grob zusammengefasst – die Überlegungen der klassischen Erkenntnistheorie spätestens seit René Descartes. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde hingegen zunehmend das zuvor gänzlich vernachlässigte erkennende Subjekt in der Standarddefinition des Wissens erkenntnistheoretisch reflektiert. Die Grundannahme dieser jüngeren Entwicklungen ist, „dass menschliches Wissen grundständig sozial konstituiert ist und auf kooperativen Akten eines kollektiven Subjektes beruht.“[6] So fragt die feministische Erkenntnistheorie etwa nach den sozialen, kulturellen oder politischen Einflüssen von Geschlecht auf das jeweilige Wissen[7] und die soziale Erkenntnistheorie nimmt die gesellschaftlichen Dimensionen und kollaborativen Aspekte von Wissen in den Blick.[8]
All diese angeführten Aspekte spielen mit Blick auf unser Wissen über den Klimawandel eine gewichtige Rolle und erlauben einen reflektierten Umgang mit eben diesem Wissen: Wie lässt sich die Wahrheit von Aussagen überprüfen, was muss vorausgesetzt werden, um von einer Aussage überzeugt zu sein, wie lässt sich Wissen rechtfertigen, welche Rolle spielt die Zugehörigkeit zu race, class und gender bei Wissensansprüchen und welchen Einfluss haben soziale, kulturelle oder politische Praktiken auf unser Wissen?
Wissen in der Krise
Krisen sind keine neuer Zustand. Die Krisenerfahrung umspannt dabei ein breites Spektrum von Lebensbereichen, wenn die Rede von politischen, kulturellen, religiösen, ökologischen oder ökonomischen Krisen ist. Die Krise sei gar „zur strukturellen Signatur der Neuzeit“[9] geworden, vermeldete der Historiker Reinhart Koselleck bereits 1982. Auch im Diskurs um den Klimawandel werden mit Bezug auf Wissen immer wieder Krisensemantiken aufgerufen und dies in zweierlei Dimensionen: Einerseits im Sinne von Krisenwissen, also mit Bezug auf den Inhalt des Wissens, welches innerhalb des als krisenhaft wahrgenommenen Klimazustands hervorgebracht, diskutiert und angewendet wird. Andererseits im Sinne von Wissenskrisen, also mit Bezug auf den Status, die Rolle und die Funktion von Wissen und Wissensansprüchen selbst.[10]
Wissenskrisen?
Gerade die zweite Dimension von Wissen in der Krise befördert und wird befördert durch gesellschaftliche Debatten um Deutungs- und Definitionshoheiten von Wissen. Hierbei haben sich zwei Pole stark ausgeprägt: Auf der einen Seite findet sich die maßgeblich politisch und nicht erkenntnistheoretisch geprägte Rede von „alternativen Fakten“, „Fake News“ und „Postfaktizität“, als strategisches Kalkül populistischer Strömungen, die alle Wissenschaftlichkeit zu einer Glaubensfrage abtun wollen. Auf der anderen Seite wird hingegen reflexhaft die positivistisch geprägte Forderung nach mehr (natur-)wissenschaftlichen Tatsachen laut, geäußert etwa in den Beiträgen der Fridays-For-Future-Bewegung oder in dem viel diskutierten Youtube-Video „Die Zerstörung der CDU.“ von Rezo. Unterschlagen wird bei dieser Forderung, dass aus wissenschaftlichen Theorien und Tatsachen zwar „technisch verwertbares, aber kein normatives, kein handlungsorientierendes Wissen“[11] unmittelbar folgt.
Doch auch Teile der Wissenschaften selbst bekennen sich zu dieser Position: „Zu Fakten gibt es keine Alternative!“, lautete entsprechend das Motto, unter dem sich 2017 beim ersten March for Science weltweit Menschen zusammentaten, um der wachsenden Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entgegenzutreten.[12] Der Soziologe Armin Nassehi reagierte umgehend skeptisch auf dieses Motto und betrachtete es als schludrig formulierten Wissenschaftskitsch: „Zu allen Fakten gibt es Alternativen oder wenigstens alternative wissenschaftliche Versionen/Aussagen - davon lebt moderne Wissenschaft.“[13] Gegen die Vorstellung eines universellen Wissensanspruchs einzelner und damit eindeutiger Antworten, richtet sich eben auch Longino in dem obigen Eingangszitat. Die aus dem Alltagsverständnis entlehnte Auffassung von alternativlosen und in sich abgeschlossenen Tatsachen ist wissenschaftsphilosophisch hochgradig problematisch, weil diese Behauptung eine Art naiven Positivismus voraussetzt, der (ausschließlich) die positiven d. h. empirisch erfassbaren Phänomene „so wie sie sind“ entdecken will und dabei unterschlägt, dass die Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen de facto komplizierter ist. Eben dazu, diese Kompliziertheit begreifen und besser durchdringen zu lernen, kann die Reflexion unseres Wissens über den Klimawandel beitragen.
Personen Artikel
Bruno Latour
Paul Reszke (* 1983) ist ein an der Universität Kassel lehrender und forschender Sprachwissenschaftler sowie Teil des Herausgeber*innenteams des Living Handbooks. Reszke forscht aus einer konstruktivistischen und pragmasemiotischen Perspektive zur Entstehung von Wissen in der Gesellschaft, u. a. durch journalistische Berichterstattung, (Populär-)Wissenschaft[1] sowie Populärkultur[2][3]. Von ihm untersuchte Themenfelder sind u. a. der Diskurs über Schulamokläufe[4], der Themenkomplex Klimawandel sowie die Wissensdomäne Kunst/Kunstkommunikation[5] (mit verstärktem Fokus auf die Kasseler Kunstgroßausstellungsreihe documenta).
Lorraine Daston
Paul Reszke (* 1983) ist ein an der Universität Kassel lehrender und forschender Sprachwissenschaftler sowie Teil des Herausgeber*innenteams des Living Handbooks. Reszke forscht aus einer konstruktivistischen und pragmasemiotischen Perspektive zur Entstehung von Wissen in der Gesellschaft, u. a. durch journalistische Berichterstattung, (Populär-)Wissenschaft[1] sowie Populärkultur[2][3]. Von ihm untersuchte Themenfelder sind u. a. der Diskurs über Schulamokläufe[4], der Themenkomplex Klimawandel sowie die Wissensdomäne Kunst/Kunstkommunikation[5] (mit verstärktem Fokus auf die Kasseler Kunstgroßausstellungsreihe documenta).
Rosi Braidotti
Paul Reszke (* 1983) ist ein an der Universität Kassel lehrender und forschender Sprachwissenschaftler sowie Teil des Herausgeber*innenteams des Living Handbooks. Reszke forscht aus einer konstruktivistischen und pragmasemiotischen Perspektive zur Entstehung von Wissen in der Gesellschaft, u. a. durch journalistische Berichterstattung, (Populär-)Wissenschaft[1] sowie Populärkultur[2][3]. Von ihm untersuchte Themenfelder sind u. a. der Diskurs über Schulamokläufe[4], der Themenkomplex Klimawandel sowie die Wissensdomäne Kunst/Kunstkommunikation[5] (mit verstärktem Fokus auf die Kasseler Kunstgroßausstellungsreihe documenta).
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- ↑ Hornuff, Daniel (2017): Wissenschaft im postfaktischen Zeitalter. Sieben Thesen. In: ZiF-Mitteilungen 22(3), S. 68. Online, zuletzt abgerufen am 18.03.2021.
- ↑ Wilcox, Barbara (2014): Simple isn't better when talking about science, Stanford philosopher suggests. In: Stanford News. Online, zuletzt abgerufen am 16.03.2021.
- ↑ Platon weist an mindestens zwei Stellen seiner Werke auf diese Unterscheidung hin: Theaitetos (201c) sowie Politeia (xxxx).
- ↑ Ayer, Alfred J. (1956): The Problem of Knowledge. London: Macmillan, S. 34.
- ↑ Vgl. hierzu eine Übersicht in Bieri, Peter (1997): Bedingungen für Wissen. In: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie der Erkenntnis, Weinheim: Athenäum, S. 75-84.
- ↑ Krämer, Sybille (2018): Einführung in die Theoretische Philosophie WS 2017/18: Abschlussgedanken als Eröffnung weiterer Perspektiven. In: Freie Universität Berlin. Online, zuletzt abgerufen am 16.03.2021.
- ↑ Vgl. etwa Code, Lorraine (2003): Is the Sex of the Knower Epistemologically Significant?. In: Pojman, Louis P. (Hrsg.): The Theory of Knowledge: Classical and Contemporary Readings. 3. Auflage, Wadsworth: Belmont, S. 559–571.
- ↑ Vgl. etwa Goldman, Alvin I. (1999): Knowledge in a Social World. Oxford: Oxford University Press.
- ↑ Koselleck, Reinhart (1982): Krise. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Ernst Klett, S. 617–650, hier S. 627.
- ↑ Vgl. hierzu auch den Titel der vierten Tagung des INSIST-Netzwerkes: INSIST (2021): 4. INSIST-Tagung „Wissenskrisen—Krisenwissen“. In: INSIST-Network. Online, zuletzt abgerufen am 17.03.2021.
- ↑ Habermas, Jürgen (2001): Erkenntnis und Interesse, 13. Aufl.. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 355.
- ↑ Zinkant, Kathrin (2017): Sciences Marches – Zu Fakten gibt es keine Alternative. In: Süddeutsche Zeitung. Online, zuletzt abgerufen am 18.03.2021.
- ↑ Nassehi, Armin (2017): Habe gerade einen Riesenschrecken bekommen. In: Facebook. Online, zuletzt abgerufen am 18.03.2021.