Die Inszenierung von Wissenschaft im Dokumentarfilm vor dem Hintergrund des Eisbär-Mensch-Verhältnisses: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Eine häufig inszenierte Methode in Dokumentarfilmen über den Eisbären ist der Abschuss eines Betäubungspfeils. Der Film ''Eisbär in Not?'' leitet die Sequenz (23:04–25:00) ein, indem die Hintergrundmusik nun in den Vordergrund gerückt wird. Die Musik besetzt die dargestellten Bilder mit einer emotional positiven Aufbruchsstimmung. Gleichrangig zur Musik kommen die Motorengeräusche des Hubschraubers hinzu. Die unterschiedlichen auditiven Modes erzeugen zusammen einen akustischen Bruch zwischen einem ästhetischen und technischen Klangteppich. Dadurch wird ein Gefühl der Unruhe modelliert, das nun von der Off-Stimme kontextualisiert wird: Anlass des Unternehmens ist der Mangel an wissenschaftlichen Daten. Das Problem für die Wissenschaft liegt in der schwierigen Datenerhebung, was bildlich durch die karge und unbewohnbare Eiswüste gestützt wird. Umso betonter treten nun die eigentlichen Akteure ins Bild: Ein soldatenähnlich gekleidetes Besatzungsteam verfolgt eine Eisbärenmutter und ihre zwei Jungen. Zeitgleich zum Gesprochenen erscheint nun das Bild eines vorbereiteten Gewehrs. Dass es sich bei der Ladung der Waffe um einen Betäubungspfeil handelt, erfahren Rezipierende erst nachträglich über den Sprechtext. Es besteht also eine Verzögerung zwischen Bild und Wort. Die Wissenschaft und ihre Praxis werden mit Spannung aufgeladen, wodurch der Unterhaltungswert gesteigert wird. Die gezeigte Waffengewalt und der Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Eisbärin werden rückwirkend durch die Off-Stimme im Sinne der Wissenschaft legimitiert. Auch die daraufhin eingeblendeten Jungtiere der Bärin werden zur Verharmlosung der gezeigten Gewalt funktionalisiert, indem sie die Situation [[Emotionalisierung in aktuellen Dokumentarfilmen über den Klimawandel|emotionalisieren]]. Als eine von mehreren Verharmlosungsstrategien wird beispielsweise gezeigt, wie ein Forscher eines der Eisbärjungen streichelt. Die Härte des Eingriffs wird somit verwischt. Der Wissenschaftler inszeniert sich – stellvertretend für die gesamte Wissenschaft und ihren Akteur*innen – somit als Beschützer seines Forschungsobjekts.<ref>Vgl. Gerlach, N. (2009): ''Der Tierfilm zwischen Repräsentation und Simulation''. Marburg: Schüren Verlag, S. 103f</ref> | + | Eine häufig inszenierte Methode in Dokumentarfilmen über den Eisbären ist der Abschuss eines Betäubungspfeils. Der Film ''Eisbär in Not?'' leitet die Sequenz (23:04–25:00) ein, indem die Hintergrundmusik nun in den Vordergrund gerückt wird. Die Musik besetzt die dargestellten Bilder mit einer emotional positiven Aufbruchsstimmung. Gleichrangig zur Musik kommen die Motorengeräusche des Hubschraubers hinzu. Die unterschiedlichen auditiven Modes erzeugen zusammen einen akustischen Bruch zwischen einem ästhetischen und technischen Klangteppich. Dadurch wird ein Gefühl der Unruhe modelliert, das nun von der Off-Stimme kontextualisiert wird: Anlass des Unternehmens ist der Mangel an wissenschaftlichen Daten. Das Problem für die Wissenschaft liegt in der schwierigen Datenerhebung, was bildlich durch die karge und unbewohnbare Eiswüste gestützt wird. Umso betonter treten nun die eigentlichen Akteure ins Bild: Ein soldatenähnlich gekleidetes Besatzungsteam verfolgt eine Eisbärenmutter und ihre zwei Jungen. Zeitgleich zum Gesprochenen erscheint nun das Bild eines vorbereiteten Gewehrs. Dass es sich bei der Ladung der Waffe um einen Betäubungspfeil handelt, erfahren Rezipierende erst nachträglich über den Sprechtext. Es besteht also eine Verzögerung zwischen Bild und Wort. Die Wissenschaft und ihre Praxis werden mit Spannung aufgeladen, wodurch der Unterhaltungswert gesteigert wird. Die gezeigte Waffengewalt und der Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Eisbärin werden rückwirkend durch die Off-Stimme im Sinne der Wissenschaft legimitiert. Auch die daraufhin eingeblendeten Jungtiere der Bärin werden zur Verharmlosung der gezeigten Gewalt funktionalisiert, indem sie die Situation [[Emotionalisierung in aktuellen Dokumentarfilmen über den Klimawandel|emotionalisieren]]. Als eine von mehreren Verharmlosungsstrategien wird beispielsweise gezeigt, wie ein Forscher eines der Eisbärjungen streichelt. Die Härte des Eingriffs wird somit verwischt. Der Wissenschaftler inszeniert sich – stellvertretend für die gesamte Wissenschaft und ihren Akteur*innen – somit als Beschützer seines Forschungsobjekts.<ref>Vgl. Gerlach, N. (2009): ''Der Tierfilm zwischen Repräsentation und Simulation''. Marburg: Schüren Verlag, S. 103f.</ref> |
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Version vom 10. November 2021, 16:47 Uhr
Das wachsende Bewusstsein für den Klimawandel bietet der szientistischen Wissenschaft einen weitstreuenden Nährboden für neue Forschungsbeiträge. Auch Dokumentarfilme über den Klimawandel befassen sich steigend mit ökologischen Fragestellungen und der Rolle der Wissenschaft darin. Anhand des Films Eisbär in Not? (2014)[1] beleuchtet der folgende Beitrag die Inszenierung der Wissenschaft im Dokumentarfilm vor dem Hintergrund des Eisbär-Mensch-Verhältnisses mittels eines multimodalen Analysezugangs.
Wissenschaft und ihre Methoden im Dokumentarfilm
Per Definition erheben Dokumentationen keinen Anspruch auf einen unmittelbaren Aktualitätsbezug, weshalb sie zur Präsentation neuster Forschungserkenntnisse ein nur bedingt geeignetes Medium sind.[2] Wissenschaftliche Themen mit einem längeren Aktualitätsbezug – wie der Klimawandel – können dagegen durchaus dokumentarisch aufgearbeitet und vermittelt werden.[3] Der Dokumentarfilm Eisbär in Not? zeigt verschiedene Verfahrensweisen auf, mit denen Wissenschaftler*innen Forschungsergebnisse erschließen und somit in die Lebenswelt der Eisbären eingreifen. Die Methoden reichen vom Abschuss eines Gewebeproben- sowie eines Betäubungspfeils über die Beobachtung aus der Ferne sowie über Fellrückstände am Zaun des Bonepile in Kactovik, einem Wal-Friedhof in Alaska.
Sequenzanalyse als sprachwissenschaftliche Methode
Die durchgeführte sprachwissenschaftliche Untersuchung nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Inszenierung der oben genannten wissenschaftlichen Methoden, um übergeordnet das Verhältnis zwischen Forscher*in und Eisbär im Dokumentarfilm darzulegen. Die erarbeiteten Ergebnisse folgen einer multimodalen Analyse repräsentativer Sequenzen auf Basis einer Transkription, die hier einsehbar ist.
Wissenschaftliche Methoden im Dokumentarfilm Eisbär in Not?
Der Biopsie-Pfeil
Der Biopsie-Pfeil entnimmt Gewebeproben, indem „das Bleistift große Geschoss […] ein winziges Stück aus der Haut des Bären [stanzt] und […] wieder ab[prallt]“ (12:27–12:31). Die Eisbären bleiben also körperlich nahezu unbeschadet und die Wissenschaftler*innen können dennoch gefahrlos Daten über die Tiere sammeln. So harmlos das methodische Vorgehen theoretisch erläutert wird, desto spektakulärer wird seine praktische Ausführung in Eisbär in Not? mulitmodal inszeniert: Die vorliegende Sequenz (12:11–12:45) zeigt zunächst, wie ein Pfeil mit einem roten Klebestreifen präpariert wird. Dahinter befindet sich kontrastiv zum Rot ein schwarz-silbernes Gewehr. Der Off-Kommentar spricht davon, wie viele Eisbären „erlegt werden können, ohne die Population zu gefährden“ (12:12–12:17). Visuell getragen wird die Aussage, indem einerseits ein Mann mit dem Gewehr und andererseits zwei vom Hubschrauber weglaufende Eisbären eingeblendet werden. Erst nach den gezeigten Bildern wird die Vorbereitung der Waffe vom Off-Kommentar sprachlich rekontextualisiert: Mithilfe der durch den Biopsie-Pfeil gewonnenen Informationen versuchen die Wissenschaftler*innen die Anzahl davon abzuleiten, wie viele Eisbären von den Inuit erlegt werden dürfen. Es geht hier im Kern also um ein spezifisches Inuit-Eisbären-Verhältnis, auf das die Wissenschaft Einfluss nimmt.
Auffällig charakteristisch an der Inszenierung des Biopsie-Pfeils ist zudem die akustische Unterfütterung der gezeigten Bilder: Der Schuss ist in aller Klarheit hören, während gleichzeitig der Mechanismus des Biopsie-Pfeils von der Off-Stimme erläutert wird. Außerdem wird die Sequenz durchgängig von den Rotationsgeräuschen des Hubschraubers begleitet. Sowohl der Hubschrauber als auch der Pfeil erweisen sich als Mittel, um die Eisbären auf Distanz zu halten. Gleichzeitig werden die Bären in ihrer Fluchtbewegung vor dem Hubschrauber gezeigt. Damit wird hier eine Beziehung zwischen Forscher*in und Eisbär angedeutet, die auf einer gegenseitigen Bedrohung von Eisbär und Mensch beruht. Die Präparation sowie der Abschuss des Pfeiles tragen dazu bei, dass das Gewehr durch visuelle und auditive Modes zunächst als Gegenstand der Bedrohung geltend gemacht wird. Erst die wissenschaftlichen Hintergrundinformationen aus dem Off reduzieren das Spannungsmoment des Gefährlichen. Durch den Moment der Bedrohlichkeit wird Forschung und Erkenntnisgewinn als spektakulär und damit als besonders interessant inszeniert.[4]
Der Betäubungspfeil
Eine häufig inszenierte Methode in Dokumentarfilmen über den Eisbären ist der Abschuss eines Betäubungspfeils. Der Film Eisbär in Not? leitet die Sequenz (23:04–25:00) ein, indem die Hintergrundmusik nun in den Vordergrund gerückt wird. Die Musik besetzt die dargestellten Bilder mit einer emotional positiven Aufbruchsstimmung. Gleichrangig zur Musik kommen die Motorengeräusche des Hubschraubers hinzu. Die unterschiedlichen auditiven Modes erzeugen zusammen einen akustischen Bruch zwischen einem ästhetischen und technischen Klangteppich. Dadurch wird ein Gefühl der Unruhe modelliert, das nun von der Off-Stimme kontextualisiert wird: Anlass des Unternehmens ist der Mangel an wissenschaftlichen Daten. Das Problem für die Wissenschaft liegt in der schwierigen Datenerhebung, was bildlich durch die karge und unbewohnbare Eiswüste gestützt wird. Umso betonter treten nun die eigentlichen Akteure ins Bild: Ein soldatenähnlich gekleidetes Besatzungsteam verfolgt eine Eisbärenmutter und ihre zwei Jungen. Zeitgleich zum Gesprochenen erscheint nun das Bild eines vorbereiteten Gewehrs. Dass es sich bei der Ladung der Waffe um einen Betäubungspfeil handelt, erfahren Rezipierende erst nachträglich über den Sprechtext. Es besteht also eine Verzögerung zwischen Bild und Wort. Die Wissenschaft und ihre Praxis werden mit Spannung aufgeladen, wodurch der Unterhaltungswert gesteigert wird. Die gezeigte Waffengewalt und der Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Eisbärin werden rückwirkend durch die Off-Stimme im Sinne der Wissenschaft legimitiert. Auch die daraufhin eingeblendeten Jungtiere der Bärin werden zur Verharmlosung der gezeigten Gewalt funktionalisiert, indem sie die Situation emotionalisieren. Als eine von mehreren Verharmlosungsstrategien wird beispielsweise gezeigt, wie ein Forscher eines der Eisbärjungen streichelt. Die Härte des Eingriffs wird somit verwischt. Der Wissenschaftler inszeniert sich – stellvertretend für die gesamte Wissenschaft und ihren Akteur*innen – somit als Beschützer seines Forschungsobjekts.[5]
Erst an späterer Stelle des Dokumentarfilms Eisbär in Not? problematisiert die Off-Stimme den umstrittenen Charakter dieses Eingriffs (37:19–37:26). Wie kontrovers die Methode des Betäubungspfeils dargestellt wird, verdeutlicht dessen hoch frequentierte Einblendung in zahlreichen Dokumentarfilmen: Der Eisbär (2012) illustriert den Ablauf des Betäubungsvorgangs gleichartig zu Eisbär in Not?, lediglich der Schuss wird auditiv markiert.[6] Gegensätzlich dazu befasst sich der Tierfilm Auf Wiedersehen Eisbär – Leben auf Spitzbergen (2020) auch mit den Schattenseiten des Betäubungsvorgangs und verweist auf den Tod einer jungen Bärin durch das Betäubungsmittel.[7] Zusammenfassend lässt sich zur Methode des Betäubungspfeils sagen, dass unter der Prämisse einer Tierwohl orientierten Schirmherrschaft eine klare Machtausübung durch den Menschen als Wissenschaftler repräsentiert wird. Zwar folgt sie positiven, wissenschaftlichen Absichten, doch wird die Datenerhebung erst durch den gewaltvollen Eingriff in die Lebenswelt der Eisbären möglich.
Eisbärenfell am Zaun: Der Bonepile in Kactovik
Während das Forschungsmaterial zuvor durch Pfeile aus der Luft gesammelt wurden, zeigt diese Sequenz (35:31–37:53) eine räumlich sowie methodisch gegenläufige Forschungspraxis auf: Der Bonepile in Kaktovic, ein Wal-Friedhof in Alaska, wird von verschiedenen Tieren wie Möwen oder Eisbären als Nahrungsquelle genutzt. Wissenschaftler*innen nutzen ihn gleichermaßen, als Quelle für Gewebeproben. Der Film zeigt, wie sich die Wissenschaftlerin Sybille Klenzendorf und die amerikanische Forscherin Karyn Rode diesem so genannten „weltweit einmalige[n] Forschungslabor“ (36:36) zu Fuß nähern. Zur Beschreibung dessen bedient sich die Off-Stimme einer bildhaften Darstellung: Die Forscherinnen „gehen gemeinsam auf Spurensuche“ (35:45). In der hier angeführten Metapher vereinen sich mehrere grundlegende Charakterzüge der Wissenschaft: In der Natur des Wissen-Schaffenden liegt das (kollektive) Streben nach neuen Erkenntnissen verankert. Der Ausdruck ‚Spurensuche‘ zentriert so die Rätselhaftigkeit, die der Wissenschaft im Kern zugrunde liegt. Währenddessen schaltet der Dokumentarfilm bildlich die Schritte, genauer die eigenen Spuren der Forscherinnen, im Schnee zum Off-Kommentar hinzu. Damit wird eine Rückkopplung faktischer Sachlichkeit garantiert, die ebenso sehr Teil des modernen Wissenschaftsverständnisses ist. Die Metapher fungiert folglich nicht als einfacher Sprachschmuck.[8] Vielmehr spiegelt sie sowohl ein spezifisches Vorgehen bei der Erschließung des Bonepiles in Kaktovic als auch bestimmte Wesenszüge der Wissenschaft im Allgemeinen wider.
Um zu verdeutlichen, weshalb der Bonepile in Kaktovic ein Alleinstellungsmerkmal für die Wissenschaft besitzt, wird Sybille Klenzendorf nun in eine porträtierende Ansicht gerückt. Während sie spricht, verstummt die Hintergrundmusik gänzlich. Dadurch wird sie als Expertin ausgewiesen, die nun die wissenschaftliche Methode erklärt: Zur Datenerschließung nutzen sie keine Hubschrauber, sondern die Haarproben, die vorbeilaufende Bären an einem Zaun entlang des Bonepiles hinterlassen. Karyn Rode veranschaulicht das konkrete Vorgehen weitergehend: Zunächst wird sie dabei gezeigt, wie sie einen kleinen, schwarzen Koffer öffnet und feine Utensilien herausnimmt. Daraufhin wird nun sie in die Expertenansicht gerückt, mithilfe derer sie nun den Zweck und die Datenauswertung fachsprachlich erläutert. Die Darstellung Karyn Rodes als Akteurin der Wissenschaft wird daraufhin durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis zusammengeführt: Während der Off-kommentar das weitere Vorgehen im Detail beschreibt, wird Karyn Rode beim Sammeln und Eintüten einer Haarprobe gezeigt. Dadurch werden die Wissenschaft und ihre Methoden authentisiert und über die dokumentarfilmische Inszenierung gleichzeitig ästhetisiert.[9]
Beobachten aus der Ferne
Im Gegensatz zu Pfeilen oder Knochenbergen wirkt das Beobachten von Tieren aus der Ferne wenig spektakulär. Die Inszenierung dessen in der Sequenz zwischen 21:00 bis 21:18 dagegen ist spannend. Nämlich in der Art wie Multimodalität sowie Multiperspektivität in einen direkten Bezug zueinander gestellt werden: Zunächst wird ein Fernrohr aus unmittelbarer Nähe gezeigt, das direkt auf die Kamera gerichtet ist. Hindurch blickt eine Frau, die vom Off-Kommentar als die Forscherin Susan Miller vorgestellt wird. Während sie durch das Fernrohr blickt, erläutert der Off-Kommentar weiter, dass sie seit 20 Jahren Eisbären beobachtet. Der Akt des Beobachtens wird somit visuell gezeigt und sprachlich mit dem beruflichen Hintergrund Susan Millers verknüpft. Aus einer weitläufigen Perspektive tritt nun Sybille Klenzendorf an die Seite ihrer Kollegin. Die zwei Forscherinnen werden als wissenschaftliche Protagonistinnen in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang gebracht. Danach informiert die Off-Stimme über ihr gemeinsames Forschungsvorhaben: Sie wollen den körperlichen Zustand der Eisbären herauszufinden. Deckungsgleich zum Gesprochenen folgt die Kameraansicht nun dem Lauf des Fernrohrs und ein im Schnee liegender Eisbär tritt in Erscheinung. Indem die Rezipierenden nun gewissermaßen durch die Augen der Forscherin Susan Miller blicken, entsteht eine direkte Unmittelbarkeit zwischen einer Akteurin der Wissenschaft und den Rezipierenden des Dokumentarfilms. Diese Ansicht erlaubt den Rezipierenden, sich nun selbst die Fragen zu stellen, die auch die Wissenschaftlerinnen interessieren: Was sagt die liegende Position des Eisbären oder sein von grauen Schattierungen geprägtes Fell über seinen körperlichen Zustand aus?
Darüber hinaus wird das Beobachten aus der Ferne mittels so genannter Tundra-Buggys praktiziert. Auch diese Sequenz (43:48–45:01) erhebt Sybille Klenzendorf zum Knotenpunkt eines wissenschaftlichen Netzwerks, indem sie es ist, die sich mit ihrem Kollegen Steve Amstrup in einem der Tundra-Buggys trifft. Das spannende Moment ist hier die Vorwärtsbewegung des Fahrzeugs, während die Off-Stimme gleichzeitig die historische Entwicklung der Fahrzeuge erzählt: Zunächst als Instrument des Tourismus, verlieren die so bezeichneten ‚Riesenfahrzeuge‘ ihren „nicht unumstritten[en]“ Charakter, indem sie „jetzt […] auch von den Wissenschaftlern sinnvoll genutzt [werden].“ (44:24–44:29) Die Leistung der Wissenschaft besteht demnach in der Aufwertung zuvor anders genutzter Technik. Zur Bestätigung des Sprechtexts wird daraufhin der Forscher Steve Amstrup mit einem handlichen Fernglas gezeigt. Auch hier folgen die Rezipierenden der Sicht des Fernglases und werden zu Teilhabenden an der Eisbärenbetrachtung. Die Beobachtung aus der Ferne scheint zunächst ein gänzlich harmloser Eingriff des Menschen in die Lebenswelt der Eisbären zu sein. Dem dahinter steht jedoch, dass sich der Eisbär der menschlichen Sphäre und seiner Beobachtung kaum mehr entziehen kann.
Das Verhältnis zwischen Forscher*in und Eisbär
Wie die Analyse hervorbrachte, wird das Verhältnis zwischen Wissenschaftler*innen und den Eisbären durch einen unterschiedlichen Grad an Nähe und Distanz zur Datenerhebung bestimmt. Sowohl der Biopsie- als auch der Betäubungspfeil inszenieren die Wissenschaft und ihre Methoden als spektakulär und spannungsreich: Sie nähern sich aus der Luft und schießen dann auf den Leib des Bären. Es besteht also ein physischer Kontakt zwischen der Sphäre des Tieres und der des Menschen. Das Sammeln der Fellrückstände und die Beobachtung aus der Ferne setzen ihren Fokus mehr auf eine bodenständigere Forschungspraxis, die immer eine körperliche Distanz zu den Eisbären bewahrt. Den Methoden gemeinsam ist, dass der Eisbär auf unterschiedliche Weise seiner Bewegungsfreiheit beraubt wird: Durch die moderne Technik bleiben nur noch sehr wenige Lebensbereiche des Eisbären unerschlossen und somit unangetastet vom Menschen. Gerade die filmische Darstellung addiert zu der Beobachtungsebene der gezeigten Akteure*innen die zusätzliche Schau der Rezipierenden, derer sich der Eisbär nicht entziehen kann. Geprägt ist die Eisbär-Forscher*innen Beziehung zusammengefasst davon, dass der Eisbär zu seinem Schutz dem Handeln und der Beobachtung des Menschen, schutzlos ausgeliefert ist.
Belege
- ↑ Dammertz, T., Gerisch, C., Kindler, A. (2014): Der Eisbär in Not? Manitoba: Spiegel TV. Die im Folgenden angeführten Minuten- und Sekundenangaben beziehen sich auf Inhalte dieses Films.
- ↑ Vgl. Stuber, Andre (2005): Wissenschaft in den Massenmedien. Die Darstellung wissenschaftlicher Themen im Fernsehen, in Zeitungen und in Publikumszeitschriften, S. 107.
- ↑ Vgl. Ebd.
- ↑ Vgl. Ebd., S. 43.
- ↑ Vgl. Gerlach, N. (2009): Der Tierfilm zwischen Repräsentation und Simulation. Marburg: Schüren Verlag, S. 103f.
- ↑ O`Brien, T., Robertson, S. (2012). Der Eisbär. Longest summer Produvtions Inc. 37:48–39:15.
- ↑ Helgestad, Asgeir (2020): Auf Wiedersehen Eisbär – Leben auf. NDR. 20:08–20:15.
- ↑ Vgl. Stuber, Andre (2005): Wissenschaft in den Massenmedien. Die Darstellung wissenschaftlicher Themen im Fernsehen, in Zeitungen und in Publikumszeitschriften, S. 161ff.
- ↑ Vgl. Munz, Tanja (2005): Die Ethologie des wissenschaftlichen Cineasten. Karl von Frisch, Konrad Lorenz und das Verhalten der Tiere im Film. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, Jg. 14, Nr. 2, S. 52–68, hier S. 66.
Autor*innen
Erstfassung: Laura Löslein am 10.11.2021. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der Diskussionsseite einsehbar.
Zitiervorlage:
Löslein, Laura (2021): Die Inszenierung von Wissenschaft im Dokumentarfilm vor dem Hintergrund des Eisbär-Mensch-Verhältnisses. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Die Inszenierung von Wissenschaft im Dokumentarfilm vor dem Hintergrund des Eisbär-Mensch-Verhältnisses, zuletzt abgerufen am 22.11.2024.