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− | '''Theologie der Befreiung''' | + | '''Gustavo Gutiérrez''' (*1928) ist ein peruanischer römisch-katholischer Priester und Theologe. Er ist einer der Mitbegründer und der Namengeber der ''Teología de la liberación'' (Theologie der Befreiung).<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Gutiérrez, Gustavo |Titel=Teología de la liberación. Perspectivas |Ort=Lima |Verlag=Ed. Universitariae (Centro de Estudios y Publicaciones 3) |Jahr=1971}}</ref> 2001 trat er dem Dominikanerorden bei. |
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− | Die Theologie der Befreiung (''Theología de la Liberación''), im Deutschen oft auch als Befreiungstheologie bezeichnet, hat ihren Anfang im Lateinamerika Ende der 1960er Jahre. Ausgangspunkt dieser Theologie stellt das Mit-Leiden mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten dieser Welt dar<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=11f}}</ref>: Zunächst waren dabei die wirtschaftlich ausgebeuteten Menschen Lateinamerikas im Blickwinkel dieser Theologie<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Unser Haus, die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören (Übersetzung aus dem Portugiesischen und Bearbeitung für die deutsche Ausgabe: Horst Goldstein) |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1996 [por. 1995] |Seite=173f. So verstanden Leonardo und Clodovis Boff die sozio-ökonomische Armut als „Grundausdruck von Unterdrückung“. Boff, Leonardo und Clodovis (1988 [por. 1986]): ''Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage''. Düsseldorf: Patmos Verlag, S. 36}}</ref>, zunehmend kamen jedoch auch andere Formen der Unterdrückung hinzu, wie bspw. die Perspektive auf die ausgebeutete Schöpfung – Leonardo Boff spricht diesbezüglich von einer „Ökotheologie der Befreiung“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Traum von einer neuen Erde – Bilanz eines theologischen Lebens (Deutsche Übersetzung: Bruno Kern) |Ort=Wien/Zürich |Verlag=LIT-Verlag |Jahr=2019 [por. 2018] |Seite=97-119. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Kern, Bruno (2013): ''Theologie der Befreiung''. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag, S. 105-116}}</ref> – und auch feministische Theologie sowie black theology lassen sich als weitere ihrer Ausprägungen ansehen<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Gibellini, Rosino |Titel=Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert (Übertragung ins Deutsche von Peter-Felix Ruelius) |Ort=Regensburg |Verlag=Friedrich Pustet Verlag |Jahr=1995 |Seite=336 und 371. Vgl. auch Boff, Leonardo und Clodovis (1988 [por. 1986]): ''Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage''. Düsseldorf: Patmos Verlag, S. 39-43}}</ref>. Die Theologie der Befreiung fragt, wie Christ*innen in einer Welt leben sollen, in der (strukturelle) Ungerechtigkeiten bestehen? Und sie beantwortet diese Frage, indem sie ausgehend von den biblischen Texten<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Leonardo und Clodovis Boff benennen folgende Bücher als bevorzugte biblische Bücher aus der Perspektive der Theologie der Befreiung: Exodus, die Propheten, die Evangelien, die Apostelgeschichte, die Apokalypse, die Weisheitsbücher, die Makkabäerbücher sowie die Bücher Esra und Nehemia. Vgl. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=46f. Als konkrete Bibelstellen eignen sich bspw.: Jer 21,11–22,30; Mt 5,3-11; Mt 25,31-46; Lk 6,2-26; Lk 10,25-37}}</ref> einfordert, dass Christ*innen in einer Welt der Ungerechtigkeiten Partei ergreifen müssen für die Unterdrückten und Ausgebeuteten<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. u. a. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=16 }}</ref> – auf eine Formel gebracht wird diesbezüglich auch von der „vorrangigen Option wegen der Armen“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Meist liest man im Deutschen eher die Übersetzung „Option für die Armen“ – die Befreiungstheologin Julia Lis bevorzugt jedoch die Übersetzung „Option wegen der Armen“. Vgl. hierzu ihre Aussagen im Podcast |Titel=„GF008 – Politik, Religion und die Option für die Armen“, TC: 13:55-16:12 |Jahr=2015 |Website=gretchenfrage.net |Online=https://www.gretchenfrage.net/2015/06/09/gf008-politk-religion-und-die-option-fur-die-armen/ |Abruf=24.03.2022 }}</ref> gesprochen.
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− | ==Geschichte==
| + | '''Leonardo Boff''' (*1938) ist ein in Brasilien geborener „franziskanischer“ Theologe italienischer Abstammung '''Verweisstelle wiederfinden'''. Seit den 1970er Jahren (und damit seit ihren Anfängen) ist er ein Vertreter der ''Theologie der Befreiung''. Internationale Berühmtheit erlangte er in den 1980er Jahren durch den ''Fall Boff'' – eine Auseinandersetzung mit der Kongregation für die Glaubenslehre und ihrem damaligen Präfekten Joseph Ratzinger über Boffs Buch ''Kirche: Charisma und Macht''.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Boff, Leonardo |Titel=Kirche: Charisma und Macht. 25 Jahre Befreiungstheologie |Ort=Gütersloh |Verlag=Gütersloher Verlagshaus |Jahr=2009 [por. 1981]}} Diese neue Auflage enthält im Anhang auch verschiedene der Dokumente aus dem ''Fall Boff''.</ref> Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde L. Boff mit verschiedenen Disziplinarmaßnahmen belegt. 1992 verbot ihm Papst Johannes Paul II. die Teilnahme am Erdgipfel in Rio de Janeiro. Daraufhin verließ er das Priesteramt und auch den Franziskanerorden.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Goldstein, Horst |Titel=Leonardo Boff. Zwischen Poesie und Politik |Ort=Mainz |Verlag=Matthias-Grünewald-Verlag |Jahr=1994 |Seite=58-63}} Die angegebenen Seiten enthalten die von Leonardo Boff hierzu getätigten Erläuterungen seines Offenen Briefs – veröffentlicht am 28. Juni 1992.</ref> Seit den 1990er Jahren wendete er sich stärker der Umweltthematik sowie der Entwicklung einer Ökotheologie der Befreiung zu und war einer der Autor*innen der Erd-Charta. 2001 wurde ihm der Right Livelihood Award (auch als „Alternativer Nobelpreis“ bekannt) verliehen. |
− | ===Historische Wurzeln===
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− | In diesem Abschnitt erfolgt eine Konzentration auf die Theologie der Befreiung im engeren Sinne ab dem Ende der 1960er Jahre<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Für eine kurze Chronologie dieser Perspektive sei auch auf Kern, Bruno |Titel=Theologie der Befreiung |Ort=Tübingen/Basel |Verlag=A. Francke Verlag |Jahr=2013 |Seite=130-137 verwiesen}}</ref> . Angemerkt sei daher, dass historische Wurzeln dieser Theologie bereits „in der prophetischen Tradition von Glaubensboten und Missionaren [liegen], die von Beginn der Kolonialisierung an die Art, wie die Kirche auf dem Kontinent [Lateinamerikas] präsent war, und die Weise, wie man die Ureinwohner[*innen], die Schwarzen, die Mestizen und die armen Bevölkerungsschichten in der Stadt und auf dem Land behandelte, in Frage gestellt haben.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=81}}</ref>
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− | ===Entstehung (1960er/1970er Jahre)===
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− | Für die 1960er Jahre, auch die Zeit des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965), wird von einer „politischen Wende“ in der Theologie gesprochen. In Europa entwickelte sich die „Neue Politische Theologie“ (in der katholischen Theologie v.a. mit dem Namen Johann Baptist Metz verbunden; in der ev. Theologie sind hier v.a. Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle zu nennen) und in Lateinamerika begann sich die Theología de la Liberación (die Theologie der Befreiung) zu entwickeln. Ihr Namensgeber ist Gustavo Gutiérrez. Im Juli 1968 hielt er einen Vortrag in Chimbote, dem ein erster Entwurf der Theologie der Befreiung zugrunde lag. Kurz darauf, vom 24. August bis zum 6. September, fand in Medellín eine für die Befreiungstheologie wichtige Bischofsversammlung statt. 1969 veröffentlichte Gutiérrez seinen Vortrag von Chimbote und 1971 veröffentlichte er eine erweiterte und vertiefte Ausarbeitung dieser Theologie unter dem Titel ''Teología de la liberación''<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Gutiérrez, Gustavo |Titel=Teología de la liberación. Perspectivas |Ort=Lima |Verlag=Ed. Universitariae (Centro de Estudios y Publicaciones 3) |Jahr=1971}}</ref>, der ersten systematischen Abhandlung der Theologie der Befreiung und bis heute einem Grundlagenwerk dieser Theologie. „Das Buch von Gutiérrez war jedoch nur die Spitze eines Eisbergs: die Befreiungstheologie zeichnete sich bald als eine ganz neue Dimension der Theologie und als neue kirchliche Bewegung ab.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Gibellini, Rosino |Titel=Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert (Übertragung ins Deutsche von Peter-Felix Ruelius) |Ort=Regensburg |Verlag=Friedrich Pustet Verlag |Jahr=1995 |Seite=337}}</ref>
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− | ===Reaktion des Römischen Lehramtes===
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− | In den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. unternahm die römische Kirchenleitung einige Versuche die Befreiungstheologie zu unterdrücken. „Diese Kritik war durch gewollte Mißverständnisse, Unverständnis für das Pathos der befreienden Sprache, Furcht vor marxistischer Unterwanderung der Kirche gekennzeichnet u. bekämpfte nur eine Karikatur der B. [Befreiungstheologie]“<ref>{{Quellen-Lexika|Lemma=„Befreiungstheologie“ |Autor*in=Vorgrimler, Herbert |Herausgeber*in=ders. |Nachschlagewerk=Neues Theologisches Wörterbuch |Band= |Ort=Freiburg i. Br./Basel/Wien |Verlag=Herder |Jahr=2000 |Seite=83-84. Hier: 84}}</ref>, so der Karl-Rahner-Schüler Herbert Vorgrimler. Formen dieser Unterdrückungsversuche zählt Giancarlo Collet auf: „Kirchliche Kritik u. Vorbehalte gegenüber der B. [Befreiungstheologie] führten z. Schließung theol. Ausbildungsstätten, Lehrentzug, Unterbindung pastoraler Projekte u.a.“<ref>{{Quellen-Lexika|Lemma=„Befreiungstheologie. I. Historische, geographische u. politische Wurzeln“ |Autor*in=Collet, Giancarlo |Herausgeber*in=Walter Kasper |Nachschlagewerk=Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage |Band=2 (Barclay bis Damodos) |Ort=Freiburg i. Br./Basel/Rom/Wien |Verlag=Herder |Jahr=1994 |Seite=130-132. Hier: 132}}</ref>. Bekanntheit erlangte in dieser Hinsicht u. a. der ''Fall Leonardo Boff'', dem aufgrund seines Werkes ''Kirche: Charisma und Macht'' die Lehrerlaubnis entzogen wurde<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. hierzu: Boff, Leonardo |Titel=Kirche: Charisma und Macht. 25 Jahre Befreiungstheologie |Ort=Gütersloh |Verlag=Gütersloher Verlagshaus |Jahr=2009 [por. 1981] |Seite=279-298. Sowie: Boff, Leonardo und Zoja, Luigi (2016) [it. 2014]: ''Die Wahrheit ist größer. Der Weg eines unbequemen Theologen (Ins Deutsche übersetzt von Bruno Kern)''. Kevelaer: Verlagsgemeinschaft topos plus, S. 57-67}}</ref> .
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− | ===Ökotheologie der Befreiung===
| + | '''Clodovis Boff''' (*1944) ist ein brasilianischer Theologe italienischer Abstammung. Wie sein älterer Bruder Leonardo ist auch Clodovis ein Vertreter der Theologie der Befreiung. Nach Jahren der Einigkeit zwischen ihnen kam es im Pontifikat von Papst Benedikt XVI. (2005–2013) zu offen ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern über den richtigen Weg der Theologie der Befreiung.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. hierzu die Ausführungen und Textauszüge, zusammengestellt von den Mitarbeiter*innen des Instituts für Theologie und Politik |Titel=Die Armen und die Theologie |Jahr=2008 |Website=itpol.de |Online= https://www.itpol.de/die-armen-und-die-theologie/ |Abruf=05.04.2022 }}</ref> In der Zeit vor diesen Auseinandersetzungen bezeichnete Leonardo das theologische Grundmuster des Denkens seines Bruders Clodovis als „analytischere, kühlere, cartesianischere, moderne Art zu denken“ im Vergleich zu seiner eigenen Denkweise sowie als „strenge, thomistische Art“.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Leonardo Boff in: Goldstein, Horst |Titel=Leonardo Boff. Zwischen Poesie und Politik |Ort=Mainz |Verlag=Matthias-Grünewald-Verlag |Jahr=1994 |Seite=26f }}</ref> |
− | Ab den 1980er Jahren gewann für die Theolog*innen der Theologie der Befreiung zunehmend die Auseinandersetzung mit der Schöpfung an Bedeutung, die im Zusammenhang mit der Ausbeutung der armen Menschen gesehen wurde<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Traum von einer neuen Erde – Bilanz eines theologischen Lebens (Deutsche Übersetzung: Bruno Kern) |Ort=Wien/Zürich |Verlag=LIT-Verlag |Jahr=2019 [por. 2018] |Seite=116}}</ref>. „War unser Ausgangspunkt bisher die Option für die Armen, müssen wir darüber hinaus jetzt auch die Geschöpfe mit in den Blick nehmen, die am meisten bedroht sind. Und da ist an erster Stelle der Planet Erde als ganzer zu nennen.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Boff, Leonardo |Titel=Unser Haus, die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören (Übersetzung aus dem Portugiesischen und Bearbeitung für die deutsche Ausgabe: Horst Goldstein) |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1996 [por. 1995] |Seite=183. Oder an anderer Stelle: „Folglich muss die Option für die Armen und gegen die Armut – das »Markenzeichen« der Befreiungstheologie – auch die Ärmste überhaupt miteinschließen: die Erde. Dieser Gedanke hat eine kraftvolle Ökotheologie hervorgebracht.“ Boff, Leonardo (2015) [it. 2014]: ''Befreit die Erde! Eine Theologie für die Schöpfung (Ins Deutsche übersetzt von Gabriele Stein)''. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, S. 31}}</ref>, so formulierte es Leonardo Boff in den 1990er Jahren<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Und in einem Interview mit Luigi Zoja formuliert Leonardo Boff rückblickend: „Im Jahr 1996 wurde mein Buch ''Schrei der Erde – Schrei der Armen'' veröffentlicht. Es ist ein erster Versuch, die Theologie der Befreiung im Kontext der Ökologie neu zu durchdenken. Mir war bewusst geworden, dass dieselbe Logik des Systems sowohl die Menschen, die gesellschaftlichen Klassen als auch die Natur unterdrückt und Herrschaft über die Erde ausübt. Die Theologie der Befreiung musste also ihren Blickwinkel erweitern. Das Buch stellt klar, dass in Lateinamerika die wahre Gefahr nicht der Marxismus ist, sondern das kapitalistische System, das sich wild und ungezähmt gebärdet. Als Befreiungstheolog[*inn]en erkannten wir, dass die Erde ebenso ausgeplündert wird wi[e] die Menschen, die ärmsten Schichten und die Länder der Dritten Welt. […] In den letzten Jahren hat die Theologie der Befreiung damit begonnen, sich mit dem Leben in all seinen Formen zu befassen, denn das Individuum kann nicht isoliert für sich existieren. Es ist Teil eines umfassenderen Systems, eines Netzes, das die physischen, chemischen und biologischen Grundlagen bereitstellt, von denen das Leben auf diesem Planeten abhängt. Der weltweite Kapitalismus zerstört diese Grundlagen und schafft die Voraussetzungen für die Herkunft einer globalen ökologischen Katastrophe.“ Boff, Leonardo und Zoja, Luigi |Titel=Die Wahrheit ist größer. Der Weg eines unbequemen Theologen (Ins Deutsche übersetzt von Bruno Kern) |Ort=Kevelaer |Verlag=Verlagsgemeinschaft topos plus |Jahr=2016 [it. 2014] |Seite=69; 73}}</ref>. Diese Verbindung zwischen sozialem und ökologischem Ansatz, verbunden mit einer Kritik an der gegenwärtigen Form kapitalistischen Konsums, entstand aus einer inneren Logik der Theologie der Befreiung<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Traum von einer neuen Erde – Bilanz eines theologischen Lebens (Deutsche Übersetzung: Bruno Kern) |Ort=Wien/Zürich |Verlag=LIT-Verlag |Jahr=2019 [por. 2018] |Seite=116f}}</ref> und wird auch von Papst Franziskus vertreten<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. dafür u. a. die beiden Texte von Papst Franziskus |Titel=Evangelii gaudium und Laudato siʼ |Jahr=2013 und 2015 |Website=vatican.va |Online=https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html |Online=https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html |Abruf=24.03.2022 }}</ref>.
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− | ==Definition(en)==
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− | In diesem Abschnitt werden verschiedene Definitionen aus der Forschungsliteratur zitiert.
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− | ===Gustvo Gutiérrez===
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− | Gustavo Gutiérrez, der Namensgeber dieser Theologie, formulierte im Grundlagenwerk ''Teología de la liberación'': „Die vorliegende Arbeit versucht, eine Reflexion zu entwerfen, die zugleich vom Evangelium und von den Erfahrungen der Männer und Frauen ausgeht, die sich in diesem von Unterdrückung und Beraubung beherrschten lateinamerikanischen Kontinent dem Prozeß der Befreiung verpflichtet haben. Es handelt sich um eine theologische Reflexion, die aus dieser Erfahrung entsteht, denn sie teilt das Bemühen, die gegenwärtige, von Ungerechtigkeit gekennzeichnete Lage zu beseitigen und eine andere, freiere und menschlichere Gesellschaft zu schaffen.“ (S. 2) „Alles dies wird uns zu erkennen geben, daß die Frage nach der theologischen Relevanz der Befreiung in Wirklichkeit eine Frage »nach dem Sinn des Christentums und nach der Sendung der Kirche« ist.“ (S. 4) „Aus all diesen Gründen müssen wir festhalten, daß die Theologie der Befreiung uns vielleicht nicht so sehr ein neues Thema aufgibt als vielmehr eine neue Art, Theologie zu treiben. […] Theologie beschränkt sich dann nicht mehr darauf, die Welt gedanklich zu ergründen, sondern versucht, sich als ein Moment in dem Prozeß zu verstehen, mittels dessen die Welt verändert wird“. (S. 21) „Nur ein radikales Zerbrechen des gegenwärtigen Standes der Dinge, eine tiefgreifende Umgestaltung in den Eigentumsverhältnissen, ein Ergreifen der Macht von seiten der ausgebeuteten Klassen und eine soziale Revolution, die die bestehende Abhängigkeit zerbricht, ermöglicht den Schritt in eine anders geartete, sozialistische Gesellschaft oder bewirkt wenigstens, daß diese möglich wird.“ (S. 29)<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Gutiérrez, Gustavo |Titel=Theologie der Befreiung, 6. Auflage |Ort=München/Mainz |Verlag=Kaiser Verlag |Jahr=1982 [es. 1971]}}</ref>
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− | ===Leonardo und Clodovis Boff===
| + | '''Dorothee Sölle''' (1929–2003) war eine |
− | Leonardo und Clodovis Boff formulieren: „Die Reflexion von der Praxis aus, innerhalb der gewaltigen Anstrengung der Armen und ihrer Bundesgenoss[*inn]en, und die Suche nach Inspiration im Glauben und im Evangelium für den Einsatz gegen ihre Armut zugunsten der umfassenden Befreiung jedes Menschen und des ganzen Menschen – das macht die Theologie der Befreiung aus. […] Wie gründlich unangemessen scheinen demnach die Kritiken dessen, der die Theologie der Befreiung von einem rein begrifflichen Niveau aus zur Kenntnis nimmt und um ein konkretes Engagement für die Unterdrückten einen Bogen macht. Ihm antwortet die Theologie der Befreiung mit dieser einen Frage: Welches ist dein Part in der wirksamen und umfassenden Befreiung der Unterdrückten?“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=18f}}</ref>
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− | ===Dorothee Sölle===
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− | Und Dorothee Sölle formuliert: „Theologia de Liberación ist mehr als eine neue theologische Mode, es ist eine weltweite Bewegung von Christ[*inn]en, die sich am leichtesten negativ definieren läßt; Christ[*inn]en sind nicht mehr bereit, das bestehende Unrecht mit Theologie und Glauben zu versöhnen, sie hören auf, die Ungerechtigkeit zu bemänteln oder zu verschweigen, sie beginnen proaktiv aufzudecken, sie greifen an, sie bekämpfen, was ist. Es handelt sich also um eine »kritische« Theologie – die dem, was wir vor zehn Jahren »politische Theologie« nannten, ziemlich nahesteht. Die Entwicklung geht aber dahin, den positiven Begriff »Befreiung« in den Mittelpunkt zu stellen.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Sölle, Dorothee |Titel=Politische Theologie |Ort=Stuttgart |Verlag=Kreuz Verlag |Jahr=1982 [1971] |Seite=187}}</ref>
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− | ==Die Methode „Sehen – Urteilen – Handeln“==
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− | ===Der methodische Dreischritt===
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− | Als Grundschema der Theologie der Befreiung gilt die Methode ''Sehen – Urteilen – Handeln''<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=34-55. Zu einer explizit ethischen Betrachtungsweise des Dreischritts siehe: Wallimann-Sasaki, Thomas (2020): ''Angewandte christliche Ethik''. In: Alberto Bondolfi (Hrsg.), Handeln in einer mehrdeutigen Welt. Theologische Ethik. Zürich: Theologischer Verlag, S. 284-296.}}</ref>. „Sozialanalytische Vermittlung, hermeneutische Vermittlung und praktisch-pastorale Vermittlung (Sehen, Urteilen, Handeln) bilden die methodischen Grundoperationen der Theologie der Befreiung. Diese drei methodischen Schritte sind jedoch bereits dialektisch miteinander verschränkt: So setzt die Wahl eines bestimmten Instrumentariums der sozioökonomischen Analyse bereits einen gesellschaftlichen Standort voraus, der im ,zweiten Schrittʻ, der hermeneutischen Vermittlung, explizit gemacht wird.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Kern, Bruno |Titel=Theologie der Befreiung |Ort=Tübingen/Basel |Verlag=A. Francke Verlag |Jahr=213 |Seite=36}}</ref> Leonardo und Clodovis Boff formulieren: „In diesem dritten Moment [dem Handeln] vollzieht sich mehr Wissen in der Praxis als in der Theorie. Das heißt, es ist leichter, dieses Moment zu leben, als es zu denken. Darum haben hier die Weisheit und die Klugheit mehr Einfluß als die analytische Vernunft. Und darin sind die einfachen Leute den Gelehrten oft überlegen.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo und Clodovis |Titel=Wie treibt man Theologie der Befreiung? (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Michael Lauble), 3. Auflage |Ort=Düsseldorf |Verlag=Patmos Verlag |Jahr=1988 [por. 1986] |Seite=53}}</ref>
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− | ===Kapitalismuskritik als Folge===
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− | Aus diesem Grundschema folgt, dass die Theologie der Befreiung eine kapitalismuskritische Theologie ist. So formuliert bspw. Leonardo Boff: „Wenn man nämlich die tatsächlichen Ursachen der Armut und der Zerstörung der Natur kritisch analysiert, dann sieht man, dass sie – nicht ausschließlich, aber hauptsächlich – das Ergebnis der industrialistischen und kapitalistischen Entwicklung sind, wie sie zurzeit verfolgt wird.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Boff, Leonardo |Titel=Überlebenswichtig. Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen (Aus dem Portugiesischen von Bruno Kern) |Ort=Ostfildern |Verlag=Matthias Grünewal Verlag |Jahr=2016 [por. 2011] |Seite=41}}</ref> In seinem Buch ''Überlebenswichtig'' betrachtet Leonardo Boff verschiedene gegenwärtige Modelle von Nachhaltigkeit, wobei die meisten nicht bestehen<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Überlebenswichtig. Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen (Aus dem Portugiesischen von Bruno Kern) |Ort=Ostfildern |Verlag=Matthias Grünewal Verlag |Jahr=2016 [por. 2011] |Seite=35-70}}</ref>. Die positiven Ausnahmen bilden die ähnlichen Modelle der Bioökonomie des Mathematikers und Wirtschaftswissenschaftlers Nicholas Georgescu-Roegen und der Ökoentwicklung, wie sie insbesondere von Ignacy Sachs vertreten wird, sowie das Modell der Solidarischen Ökonomie, wie sie ihr Theoretiker Paul Singer vertritt und das Leonardo Boff als „lebbare Nachhaltigkeit im kleinen Maßstab“ bezeichnet. Sowie schließlich das Modell ''buen vivir'' (auch bien vivir; sumak kawsay; suma quamaña).<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Vgl. Boff, Leonardo |Titel=Überlebenswichtig. Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen (Aus dem Portugiesischen von Bruno Kern) |Ort=Ostfildern |Verlag=Matthias Grünewal Verlag |Jahr=2016 [por. 2011] |Seite=63-70. Zum Modell ''buen vivir'' vgl. auch Boff, Leonardo (2018 [por. 2012]): ''Achtsamkeit. Von der Notwendigkeit unsere Haltung zu ändern (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Bruno Kern)'', München: Claudius Verlag, S. 79–83. Sowie: Beck, Michelle (2018): ''Buen Vivir. Von einem schillernden Verfassungsprinzip und einer Vision von Gerechtigkeit und Frieden''. In: Virginia R. Azcuy (Hrsg.) und Margit Eckholt (Hrsg.): Friedens-Räume. Interkulturelle Friedenstheologie in feministisch-befreiungstheologischer Perspektive, Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag, S. 191–201}}</ref>
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